Leseprobe 3

"Die Frage bleibt aber doch: Wie kommt einer mit sich klar, der gelobt hat, seinen Vertrag mit Gott zu erfüllen, und nach Jahrzehnten erkennen muss, dass er es nicht schafft? "Nur Gott und ich", Julia, das kann in die Hose gehen. Zu vielen geht der kritische Blick auf ihr Verhältnis zu anderen Menschen verloren, die ihnen doch -, was sie so gerne betonen -, wie Schafe einem Hirten anvertraut sind. Sie erleben ihr herausgehobenes Dasein bereits als den himmlischen Frieden, entwickeln Marotten, Schrullen, Begierden, weil es ihnen an Möglichkeiten zu einer ganz eigenen Bewährung fehlt. Statt Gott ist es immer öfter ihr Ich, das in ihrer ereignisarmen, überschaubaren Alltagsordnung den Ton angibt. Gleichzeitig quälen sie sich mit der Frage, warum sie Gott, den sie doch so sehr suchen, nicht finden, zweifeln an der Qualität ihres Glaubens, verzweifeln an der Vorstellung, dass es Gott sein könnte, der sich von ihnen nicht finden lässt.

"Es gibt sie natürlich, ich sagte es schon: Menschen, die ihre Schwächen auch in exklusiver Stellung nicht kultivieren, die sich weder in Süchten verlieren, noch läppisch das fröhliche Gotteskind mimen, die sich trotz ihrer Fähigkeiten und Chancen nicht in Intrigen und Machtspielen verlieren und es fertigbringen, belastbar, verantwortungsbereit und selbstkritisch durchs Leben zu gehen. Aber die gibt es unter uns Laien doch auch []. Nur die vielen... Ich meine, wenn sie immer vorne und oben stehen, Julia, was macht das mit diesen vielen? Was erleben sie noch? Ändert sich nicht ihr Mitgefühl? - Was alles verkümmert in ihnen?"