Leseprobe 1
Abschied. Abschied von Santorin.
Aus der Caldera fahren sie wieder hinaus aufs Meer. Es ist ein Abschied auch von Europa. Abschied -
Syd hat Carol in den Schatten gebettet. Vor ein paar Tagen noch - zuhause - bekam sie Blut: Ein Erythrozytenkonzentrat. Seitdem, meinte er, ginge es Carol viel besser. Dabei schaute er Trude so ruhig an, als ob jede Sorge unnötig sei. Trude aber war entsetzt, und Fritz hatte Syd zur Seite genommen und gefragt, ob das nicht alles ein bisschen zu waghalsig sei. Als er mit Trude allein in der Kabine war, machten sie beide ihrem Herzen erst einmal Luft. Noch nie hatten sie Carol so schwach erlebt - weder nach der Operation damals, noch bei der Bestrahlung, ja, nicht einmal während der Chemotherapie: So bleich und ständig müde, sieht auch ganz aufgeschwemmt aus. Aber zum Abend zieht sie ihre schönen Kleider an, geht mit ihnen zu Tisch, nippt am Pfefferminztee und stippt in ihrem Essen herum. "Wenn de nich richtig isst, kann ja nischt werden", hatte Fritz gestern gescherzt. "De Seeluft alleene wirds nich schaffen." - "Geht schon." Aus viel zu tief liegenden Augen sah Carol ihn an, während sich ihre Lippen lächelnd über die Zähne spannten. Trude jedenfalls wurde bei ihrem Anblick ganz schlecht. So hatte sie sich ihre Traumreise nicht vorgestellt: Von Piräus nach Phuket - auf den Landgängen würden sie Arabien, Indien, Sri Lanka und Thailand erkunden. In dieser Erwartung war sie schon den ganzen Sommer wie auf Wolken gegangen. Aber jetzt? Seufzend schaut sie sich auf dem Sonnendeck um: Gerda Wiebcke aus Neuss dreht ihre Runden. Walter folgt ihr mit staksigem Schritt. Von Achtern schlurft Adolf aus New York heran - das Radio immer am Ohr. "Was gibt's Neues?", ruft ihm Ron aus dem Liegestuhl zu. - "Keine Ziele!" - Hilflos schaut er den Landsmann an. - "Überhaupt keine Ziele mehr. Nur noch Flüchtlinge!" Adolf massiert seinen spitzen Bauch. "Reden nur noch von Flüchtlingen."
"Es herbschtelt", meint Max, kratzt etwas Mousse au Chocolate von dem Schildchen, das ihn als ‚Cruise Director' ausweist und blinzelt hinaus in den gleißenden Dunst. Kein Wind, kein Wellengang - ohne das einschläfernde Maschinengeräusch wäre es still. Aber jetzt taucht Maxime auf. "Weißt du - ", ruft sie, kaum dass sie ihren Ron in seinem Liegestuhl ausgemacht hat, "weißt du, was ich in der Kabine am meisten vermisse? Meine schöne und - große Badewanne zuhause!" Ein paar Leute schauen zwar schon hinter ihren Zeitungen auf, aber Ron lässt ihre tiefe, laute Stimme ganz ungerührt, und so macht sie - nach einem hastigen Blick übers Deck - von ihren kleinen Fäusten Gebrauch: "Wir werden uns doch nicht totschlagen in der kleinen Kabine?", ruft sie und belegt seine Brust mit einen Trommelwirbel. Als auch der nichts nutzt, wendet sie sich Max zu: Wie viele Passagiere nach dem 11. September denn abgesagt hätten. Ein wenig mulmig sei ihr schließlich auch. Aber wenn's zu gefährlich sei, als US-Bürgerin aufzutreten, würde sie sich als Kanadierin ausgeben. Einen Anstecker mit einem ‚Maple Leaf' habe sie für alle Fälle dabei.
"Max!", ruft sie ihn zurück, denn er hat sich in einem unbeobachteten Augenblick bereits ein paar Schritte von ihr entfernt, "Max, was kostet eigentlich die Passage durch den Suezkanal?"
"Für dieses Schiff - so 35 000 Dollar schätze ich mal …