Leseprobe 4

Längst verblüht war der erste Mais dieser Regenzeit. Kräftige Kolben wölbten sich in den Hüllen. Die Ernte war nicht mehr weit. Es war Mittagszeit. Alle hatten im Feld zu tun. Nur Thadde langweilte sich unter dem Baumwollbaum. Da hörte er in der Ferne ein Summen. Ein Flugzeug? Ein Flugzeug, ja! Rettung? Glänzend brach sich im Glas des Cockpits ein Sonnenstrahl. Thadde bebte vor Glück.
Schon war es hinter den Kronen verschwunden und brummte in einer neuen Schleife heran. Gab es denn hier einen Landeplatz? – Jetzt kam es tiefer. Wollte doch nicht etwa auf die Felder herab? War es in Not? Nein, es zog wieder hinauf, doch ein Schleier –, und gleichzeitig dieser lange, röhrende Laut. So dumpf. War das noch ein Brüllen, das aus einer menschlichen Kehle kam?
Gift! wusste er, und wieder setzte das Flugzeug zum Tiefflug an. „Kommt her!“, rief er. „Schnell unter den Baum! Na, los doch! Hierher!“
Sie standen und schauten, wie das Flugzeug in sauberen Bahnen die Felder benetzte, ihre Ernte verätzte. Sie sahen ’s mit an: Machtlos, sprachlos und starr.
Dumpf, ja muffig zog es gleich darauf von den Feldern herauf, beißend. Es nahm ihm die Luft. An Händen und Füßen gefesselt, rutschte Thadde näher zum Baum, drückte sein Gesicht ins Gras und betete, dass das Brummen nicht wieder kam.
Irgendwann hob er den Kopf.
Die Welt war vergoldet. Millionenfach glitzerte toxischer Dunst. Frauen wandelten – schwarze Gestalten – durch vergiftete Gärten, schwebten – nach Ewigkeiten – als fahle Geister zu ihm herauf.
Noch immer hatte er ihren Schrei im Ohr. So schreit man nicht, wenn man wütend ist, sagte er sich, als er wieder in seinem Käfig saß. So klingt keiner, der sich noch wehrt.
Zu lange gequält.
Was für ein grauenvoller Schrei das war! Es schien, als habe er keinen Anfang gehabt. War er denn – unhörbar – immer da? Quoll aus der Tiefe herauf, und wer ihn ungläubig bemerkte, entsetzt erkannte als einen menschlichen Schrei, der erlebte Ohnmacht als ein kraftloses Stöhnen, das in dem Abgrund erbebte, der ihre Seele war?
So schreit der Entkräftete, wusste er, bevor er für immer verstummt.

Die armen Menschen, stammelte er wieder und wieder, und seine Gedanken hetzten ihn durch seinen Verhau. Eines war sicher, das Gemüse war nun kaputt. Vor allem aber: Der Mais! Zwei Wochen hätte er noch gebraucht. Die Bananen hatte es bestimmt auch getroffen. Die Maniokwurzeln würden ihnen wohl bleiben.
Der Regen könnte vielleicht noch was retten Warum kam er denn heute nicht? Flüsternd sprach er es und wie erstickt. Er hockte in seiner Ecke. Nun haben wir nichts mehr zu essen, hämmerte es in seinem Kopf. Zu wenig jedenfalls um zu leben. Er zählte die Steine, sprang auf: Drei Monate nur, dann würde wieder Trockenzeit sein.
Wir müssen die Felder räumen, neu bestellen. Sofort! Vor allem den Mais. Ob sie noch Saatgut haben? In wütenden Tränen erging sich sein Schmerz. Profitgieriger Schurke! Was ging nur in so einem Menschen vor? Sieht, wie sie stehen in ihren Gärten und lässt dennoch sein Gift auf sie ab. Ist das ein Mensch?
Sie haben schon so viel Böses erlebt, dachte er, zu viel einfach. Sinnlos das Ganze. Ohne Sinn aber, hält sich auf Dauer kein Leben. Ein Ziel fehlte, das Freude gab. Es braucht viel, um sich aus der Asche zu heben. Sinnlosigkeit hatte ihre Kraft aufgezehrt. Worum es jetzt ging, war nur noch ihr Tod.

„Viel Maisbrei wird’s nicht mehr geben“, sagten die Jungs am Abend und schoben ihm das Essen hinein.
„Wisst ihr, was er gesprüht hat?“
„Round-up vermutlich“, sagte der Kleine.
Der andere nickte: „Round-up, ja, aber sie mischen ’s sehr stark.“
Einige würden fiebern, berichteten sie ihm am nächsten Tag. Vor allem die Alte.
„Und ihr?“, fragte Thadde.
„Durchfall“, räumten sie etwas verlegen ein. „Und du?“
„Nichts, glaube ich.“
Sinnlos das Ganze. Am Morgen zog er sein Netz nicht mehr hoch, lag nur noch, saß, döste und wartete auf die Nacht. Dösen war besser als Denken. Später hatte er auch dafür keinen Gedanken mehr. Er fror viel; ja, sogar die vom Regen gesättigte Mittagsglut jagte ihm Schauer durch seinen Leib. Manchmal legte er gegen Abend noch einen Stein zu den anderen. Im Übrigen dachte er nur noch, was er sah.

In dichtem Nieselregen hatten sie auch noch das letzte ihrer verödeten Felder geräumt. Als sie den Stall erreichten, klarte es auf. Müde zogen die Frauen zum Dorf. Thadde wurde zu seinem Verhau geführt.
Ob er sich noch schnell waschen dürfe, hatte er bei den Jungs angefragt – sich und seine verdreckten Kleider. Er wusste, dass sein Wunsch eine Zumutung war, schließlich standen die beiden genauso durchnässt und schmutzig da und wollten nach Hause. Zwar fiel das Mittagessen seit der Vergiftung der Felder aus, doch wenn schon nicht satt, so wollte jeder wenigstens sauber sein.
Sie hatten genickt, waren mit ihm zum Bach gegangen und hatten sein Baden bewacht. Der Kleine hatte ihm sogar noch die Seife gebracht. Als Thadde sauber war, hatten sie ihn weggeschlossen und sich davon gemacht.
Bald lag er in tiefem Schlaf.

Tumult weckte ihn auf. Benommen blinzelte er über den matschigen Platz. Männer! Gleich pochte sein Herz. Schweiß brach ihm aus. Er kroch unter dem Netz heraus, glitt in die nasse Hose, raffte noch seine Decke, das Netz und zog sich in die Ecke zurück. Seit der Entführung, ging es ihm plötzlich auf, hatte er keinen Mann mehr gesehen.
Etwas befand sich in ihrer Mitte. Lautstark schlugen sie darauf ein. Frauen kamen gelaufen, umstanden keifend den kämpfenden Haufen. Was sie riefen, verstand Thadde nicht.
An die Wand gedrückt, verfolgte er ihre Rauferei. Schließlich wendeten sich die ersten ab. Andere folgten. Das Knäuel lockerte sich. Die Schlägerei schien zu Ende. Die Frauen schimpften noch schrill und sehr aufgebracht, sammelten sich aber schon gegenüber an dem windschiefen Stall. Nur einer lag auf den Knien und hielt sich den Kopf. Ein paar der Männer standen um ihn herum. Mit Fußtritten forderten sie ihn zum Aufstehen auf. Vergeblich. Zu dritt hatten sie ihn schließlich doch hoch gebracht. Lehm beschmiert stand er da, schwankte.
Thadde sah, dass es J.J. war.
Das Grüppchen setzte sich in Bewegung, hielt direkt auf ihn zu. Vor der Tür wurde J.J. gefesselt. Einer der Männer schloss auf, ein anderer stieß ihn herein, drehte den Schlüssel herum, zog ihn ab, und alle schlenderten hinüber zum Stall. Thadde verharrte in seiner Ecke.
J.J. hatte sich an die Tür gelehnt, schien völlig erschöpft, ja benommen und von Schmerzen gequält. Er hielt den Kopf gesenkt. Sein Gesicht war im Dunkeln. Er stöhnte, glaubte sich wohl allein. Als Thadde sich regte, sah er mal auf, doch sein Blick blieb leer. Dass er ihn nicht erkannte, lag bestimmt auch an Thaddes üppigem Bart.
„Ja, ich bin’s, Thadde“, sprach er ihn an. „Vor ein paar Monaten haben wir in Leticia mal zusammen – gespeist. Erinnerst du dich? Gekidnappt haben sie mich. Und nun dich. Wahrscheinlich brauchen sie Geld.“
J.J. schüttelte nur den Kopf.
„Eigentlich weiß ich noch immer nicht, wie ich überhaupt hierher kam“, erzählte ihm Thadde. „Es war schrecklich. Am Anfang war ich wie tot. Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, was mit Hannes ist. Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt. Niemand antwortet mir, wenn ich frage.“ Und von seinem Trip zum Indianerdorf bis zur Gefangennahme sprudelte so ziemlich alles Erlebte aus ihm heraus. Dass es ihm besser ginge, berichtete er, jetzt, wo man ihn arbeiten ließ. Er sei wieder bei Kräften. Das Essen sei gut; na ja, in Anbetracht der Tatsache eben, dass diese armen Menschen ja selbst nichts hätten! Verjagt hätte man sie von ihrem Besitz.
Hörte ihn J.J.? Hörte er zu?
Er war auf den Boden geglitten. Sein Kopf ruhte in den gefesselten Händen. „Für mich gibt es kein Geld“, sagte er nur. „Die Vereinigten Staaten lassen sich nicht erpressen. Niemals kaufen sie ihre Bürger frei.“ Sein Blick irrte über die Betonplatte und durch den Maschendraht: „Hier also kommt mein Leben zu Ende.“
„So darfst du nicht reden“, hörte Thadde sich widersprechen, „nicht einmal denken darfst du so was!“ Es war ihm nicht wohl bei seinem Gefasel. Er gab ihm Wasser aus seiner Kanne. Von seinem Tee aber bekam J.J. nichts.
„Wie bist du in ihre Gewalt gekommen?“, erkundigte er sich mit gedämpfter Stimme. Dabei warf er einen ängstlichen Blick über den Platz, schlürfte sein Wasser, streckte die gefesselten Beine, stöhnte und lehnte sich wieder zurück. Eine Weile schien er wie weggetreten.
„Bin ihnen direkt ins Maul geflogen“, seufzte er schließlich und raufte sich seine wenigen Haare. „Hatte keinen Treibstoff mehr: Verloren vielleicht oder zu wenig getankt, wer weiß; nicht aufgepasst jedenfalls. Als ich wusste, dass ich nicht mehr zurückkommen würde, landete ich drüben auf dem größeren Platz, in der Hoffnung natürlich, es handle sich um eine friedliche Siedlung.“ Er saß wieder, seufzte nur und schüttelte seinen Kopf.
Am Stall drüben nagelten Männer den Drahtzaun fest. Die alte Frau war gekommen. Sie schien schwach nach dem Fieber und stützte sich auf das Kind. Vom Schatten eines Strauches verfolgte sie die Arbeit an dem schäbigen Haus.
Warum war J.J. hier rum geflogen? Was hatte er in dieser Gegend zu tun? Business, hätte er Thadde vermutlich zur Antwort gegeben. Business, was immer das auch bedeuten mochte, Thadde hatte erst gar nicht danach gefragt. Aber J.J. musste wissen, wo genau sie hier waren. Zumindest das könnte er von ihm erfahren, und ob ihr Entführungsfall durch die Presse ging. Ob man sich in Deutschland bemühte –
Das Kind führte die alte Frau herüber. Die Männer folgten. Vor Thaddes Verhau hielten sie an. Sie stand mit dem Jungen, Hand in Hand, und sah J.J. an, halb von hinten zunächst, regungslos. Langsam schob sich ihr Schatten über den Boden. Dicht vor J.J. machte er halt.
„Er war es!“, rief da der Kleine und zeigte mit seinem Finger auf den gefesselten Mann. „Er hat unsere Felder verwüstet mit seinem Gift. Er hat uns alle hier krank gemacht! Er war es! Er!“
J.J. rührte sich nicht.
„Stimmt das?“, herrschte Thadde ihn an. – J.J. hob nur die Schultern. „Mein Job“, murmelte er, doch Thadde stürzte schon auf ihn zu: „Du – Schwein!“ Er packte ihn so kraftvoll am Kragen, dass J.J. der Hals schwoll. Fauchend ging Thaddes Atem, als er ihm in die Augen starrte. J.J.s Kopf neigte sich, wurde grau. „Du mieses – Schwein!“, keuchte Thadde und zog ihn mit einem Ruck näher an sich heran: „Schau mich an, du –!“ Bebend hielt er ihn, aber mit einer Hand. J.J. röchelte. Seine Beine gaben jetzt nach. Da ließ Thadde ihn fallen. Dumpf schlug sein Körper am Boden auf.
Thadde stand über ihm, die Fäuste geballt: „Mörder!“, brüllte er. „Weißt du, was es für einen Menschen heißt, wenn er im Regenwald überleben muss? – Drei Monate hatten wir diese Felder gepflegt. Der Mais stand kurz vor der Ernte!“ Er heulte fast. „Du hast uns alle hier umgebracht!“
Die draußen versammelt waren, hatten’s mit angesehen, verharrten auch jetzt bewegungslos, als Thadde nur stand und schnaufte und den Mann mit wildem Blick dort am Boden maß: Gekrümmt lag er, die gefesselten Hände vor dem Gesicht.
Keiner schritt ein.
Still war es, und Thadde wischte sich schließlich die Tränen. „Dass du dein Unwesen mit dem Leben treibst“, sagte er und wandte sich von ihm ab, „das ist es, was dich zu dieser – Abscheulichkeit macht!“
Gleich darauf fühlte er sich von Gewehrkolben zur Seite geschoben, und einer der Campesinos meinte: „Besser ist es, du rührst ihn nicht an!“
Mit Schlägen und Tritten brachten sie J.J. auf Trapp. Er taumelte noch, da stießen sie ihn schon durch die Tür. Für einen Moment krallte er sich, um nicht zu fallen, am Maschendraht fest. Mit stierem Blick sahen sie sich noch einmal an: „Du hast vergessen“, hörte Thadde ihn keuchen, „dass es immer zwei Meinungen gibt: Die falsche und…“ Für einen unfassbaren Augenblick schien es, als flöge ein gut gelauntes, ja schelmisches Lächeln über sein geschundenes, feistes Gesicht, „…unsere!“(1)
„Cállate la jeta ote la rompo!“(2), schimpften die Männer und trieben ihn über den Platz. Die alte Frau folgte…