Leseprobe 2


… Längst waren ihre Gesichter zu Schatten geschmolzen; sie saßen – von Netzen geschützt – auf der Galerie.
„Wie oft kommst du noch?“, fragte es aus der Dunkelheit. Einen Moment war es still.
„Einmal“, hörte sich Thadde sagen, „zweimal noch vielleicht.“ Die Antwort fiel ihm nicht leicht. Sein Projekt war beendet, die Gruppe längst abgereist. Geräte und Proben hatte er in Leticia verschifft. Nur um den Rest zu holen, war er gekommen.
„Willst du noch mal – in dieses Dorf?“
„Ich denke, dass es noch sicher ist.“
Eine ganze Weile ließ Barth nur das knarrende Schaukeln seines Stuhls von sich hören, aber dann räusperte er sich: „Meistens –, du weißt ja, sie schlagen zu, wo gefördert wird, wo Pipelines laufen, wo es um Koka geht. Andererseits – ist es nötig, dass du noch einmal gehst?“
Hannes aber hatte bereits Lunte gerochen: „Ein Dorf? Was für ein Dorf?“
„Indianerdorf.“
„Wie kommt –?“
Doch nun legten sie wieder los, die tausend Zikaden. Machtvoll schwoll ihr Schlagen, heftig und harsch.
„Durch die Luft!“, konnte Thadde ihm noch zurufen, und dann warteten sie, bis der Lärm abbrechen würde.
„Alles Werbung –“, seufzte es schließlich aus dem Schaukelstuhl in die Stille der Nacht, „manchmal auch Warnung. Tagsüber verbergen sie sich, sitzen irgendwo still am Boden, sehen wie Flechten aus oder Moose. Manchmal hält man sie nur für ein verschrumpeltes Blatt –“ Barth unterbrach sich, schnüffelte, denn wunderbar wehte es jetzt vom Garten herauf. Auch Thadde sog den Duft in sich hinein: „Wie Moschus, was? Könnten Pekaris(8) sein.“
„Ganze Herden –“, knurrte Barth, „Nacht für Nacht durchstromern sie meinen Garten. Lautlos. Nur ihr Geruch –“ Doch wieder schlug das Zikadenvolk zu.
„Sie suchen sich“, erklärte er Hannes, als sie geendet hatten, ihren Gesang. „Meist sind es die Männchen, die rufen. Die Bräute lauschen sehr aufmerksam. Jedes Männchen hat seinen eigenen Klang. Sie lassen ihre Flügel schallen oder trommeln mit ihren Beinen. Bei anderen ist es der ganze Körper, der striduliert(9).Wenn es das richtige Lied ist“, kicherte er, „lenken die Bräute ein! Na ja, wenn einer mit seinem Aussehen nicht glänzen kann, kommt eben alles darauf an, wie er singt.“
Lange Zeit überstimmten die Zikaden alles mit ihrem herrischen Schlagen und verstummten nur, um das, was sich regte gleich wieder niederzuschreien. Sie störten jeden Gedanken. Nichts ergab einen Zusammenhang, geschweige denn eine Geschichte. Einsilbig verlief das Gespräch.
„Warum“, fragte Thadde mal irgendwann in die Stille hinein, „warum wird eine Frau eigentlich Guerillero?“
„Guerillero? – Guerillera willst du wohl sagen.“
„Gut, gut. Aber warum verlässt sie ihre Gesellschaft – das bisschen Zivilisation, das sie kennt; ihr Vergnügen, Menschen, die sie gerne haben, die sie beschützen könnten, vielleicht sogar lieben? Warum kehrt sie allem den Rücken und geht in den Untergrund?“
„Frag sie selbst“, krächzte Barth aus seiner Ecke, „falls du mal eine triffst.“
Auch Hannes schien von Thaddes Frage nicht gerade beeindruckt zu sein: „Warum nicht?“, meinte er nur, „Frauen – heutzutage – können doch alles sein!“
„Vielleicht hat ihnen keiner das richtige Lied gesungen“, spann Barth den Faden noch ein Stück weiter. Doch plötzlich walzten die Kufen seines Stuhls unerwartet heftig über die Dielen. Als er weiter sprach, war seine Stimme ernst: „In den Bergen damals – zu Hunderttausenden hatten sie sich erschlagen. Was hat’s denn gebracht? – Angenommen, die Oppositionellen hätten damals den Kampf gewonnen. Dann hätten sie wie ihre mächtigen Vorgänger zu entscheiden gehabt, wie sie sich in Zukunft verhalten wollen: So, wie es für Machthaber üblich ist, oder vielleicht doch lieber auf eine menschliche Art? – In unserem Fall hier in Kolumbien kam es aber gar nicht so weit. Das Gemetzel hatte ja nichts verändert! Dieselben Leute waren auch danach an der Macht. Ein Neues freilich hatte ihnen der Sieg gebracht: Sie brauchten sich nun nicht mehr zu beweisen.“ Seitdem, schloss er, sei politische Aktivität nur noch in den führenden Parteien erlaubt. Wer konnte, habe das Land längst verlassen Einige seien Guerilleros geworden, andere Dissidenten; und wer habe nicht alles im inneren Exil Zuflucht gesucht?
„Aber –“, empörte sich Hannes.
„So, mein Junge, haben die Guerilleros vermutlich auch gedacht. Inzwischen kontrollieren sie vierzig Prozent dieses Landes – natürlich nicht aus eigener Kraft. Moskau und Havanna, hieß es einmal, würden sie finanzieren. Aber das ist vorbei. Nun sind sie zu Räubern, Erpressern, Entführern geworden. Sie verschaffen sich auch über Drogenanbau und -handel ihr Geld. – Kontrollieren, wisst ihr –, das kostet. Das ist aufwendig, und jeder Aufwand verschlingt Geld. In meiner Kindheit, damals in Idaho, gab es vieles zu kontrollieren: Zäune vor allem – den Stacheldraht haben wir nämlich erfunden; Herden, Ställe, den Wasserstand und die Brücke unten am Bach –“ Was er da sagte, schien ihn zu berühren; je länger er sprach, um so lauter polterten die Kufen seines Stuhles über den Boden. „Wer einmal anfängt zu kontrollieren, der hört nicht mehr auf! Und wer Menschen kontrolliert, muss mehr haben, als er zum Leben braucht. Er braucht Leute – Leute, die für ihn sorgen. Von ihnen – “ Barth hatte schon viel zu viel und vor allem zu schnell gesprochen. „Von ihnen“, keuchte er, „hängt er für den Rest seines Lebens ab – ein Umstand, den seine Ernährer natürlich nutzen, um ständig neue Operationen von ihm zu fordern.“
Endlich, das rhythmische Zirpen der Zikaden löste ihn ab. Es sei aber nur eine Frage der Zeit, nahm er, sobald sie geendet hatten, das Thema schon wieder auf, dann würden die Untaten der Mächtigen ihre Opfer aufrufen. Wie ihre Peiniger seien auch sie jeder Zeit zu Gewalttat und Mord bereit. „Paramilitares“, keifte er mit letzter Kraft, „wie Pilze schießen sie hier aus dem Boden. Autodefensas (10) nennen sie ihre Aktionen und glauben, unter dieser Überschrift sei jedes ihrer Massaker legitimiert. Ein Verdacht, eine Verleumdung – schon bist du tot. Frau oder nicht, Thadde, wenn’s um Besitz geht, kann sie genau so unmenschliche Entscheidungen –“
„Und was, bitte, ist menschlich? Definier’ das erst mal.“
„Wenn ich das könnte!“
War es die Schwüle? War es die stockdunkle Stille oder der aufdringliche Krach? Die Welt lastete schwer. Sie sahen nicht mehr. Eine ganze Weile saß Barth schwer atmend in seinem Stuhl. Schwer zu sagen, woher er die Luft für einen derartigen Ausbruch nahm: „Worum –“, brüllte er plötzlich gegen das Zikadengeschrei an, so dass Thadde und Hannes zusammen fuhren, , „worum, verdammt noch mal, geht es denn?“ Das Zirpen brach ab. „Um Macht!“ Flüsternd kam es. „Immer geht es um Macht! – Du hast aber keine Macht, wenn du dich abhängig machst, um andere Menschen zu unterwerfen! Seht euch doch die Geschichte an! Dieses Land hier – Kolumbien 1903: Wer sich Unterstützung für seine Befreiung holt, tauscht doch nur seinen Herrn! Mit seiner – militärischen – Hilfe hält er dich nun gefügig! Obendrein bezwingt er dich mit dem diplomatischen Druck, den er dir macht. – Ein Aufstand, denkst du, könnte dich von ihm erlösen? Vergiss es! Den zettelt er ja längst selber an, um am Ende öffentlich niederzuschlagen, was er zuvor heimlich begann. – Für deine Sicherheit, sagt er dann, hätte er diesen hohen Einsatz gewagt und um euch zu schützen vor eurem eigenen Blut! Deine Freiheit, dein Recht, sagt er, sie seien sein Preis! Vertrauliche Gespräche hat er längst mit den Kollaborateuren geführt. Optionen, Konditionen – all das hat er ihnen heimlich schon längst in die Feder diktiert. Später dann erkennt er es offiziell an und lädt ein, alle Welt und auch dich, und feiert so laut, dass es jeder glaubt. Nun ist es raus, und jedermann weiß: Seine Marionetten sind legitimiert! Damit wird’s leichter – für ihn. Für seinen Vorteil braucht er nun nicht mehr mit geheimen Aufwand zu kämpfen. Wer es jetzt noch wagt, ihn zu stören, wird als Mob verschrien, wird Extremist geschimpft oder gebrandmarkt als Kommunist. Egal, wie er’s nennt: Titel repräsentieren den Zeitgeist und sind stets austauschbar. Was sie bei dir bewirken müssen, ist Angst. Manch einer sitzt ohne Verfahren auf unbegrenzte Zeit am Ende der Welt! Wie Viele, meint ihr, werden als Terroristen irgendwo, und das ist so gut wie nirgendwo, gehalten in einem Knast?“
„Schon richtig! Aber warum wird eine Frau Guerillera?“, hakte Thadde noch einmal nach. „Sie, die Leben geben, pflegen und auch erhalten kann?“
„Nu willste wieda mal uff de Papayas raus.“
„Geschlechtswechsel unter Stress“, krächzte Barth, „ja, daran hat er einen Narren gefressen. Das ist sein Steckenpferd! Aber vielleicht ist ja an der Vorstellung auch was dran. – Nehmen wir also einfach mal an, so eine junge Frau hält es für Unsinn, in diesen endlosen Unterdrückungskampf neues Leben zu geben! Sie lehnt es ab, diesen Irrsinn womöglich noch mit frischem Blut – ihrem Blut – zu verlängern, schlimmer noch: Sie findet in ihrer Gesellschaft keinen geeigneten Platz. Wer nieder kommen will, braucht einen Ort, an dem er in Ruhe gebären kann. Dann muss sie ihn schaffen, meint sie vielleicht, muss kämpfen, damit sie entbinden kann. – Vielleicht findet sie auch keinen Mann, der anderes denkt als Vorteil und Krieg...“
„Dann könnte sie auch in ein Kloster –“
„Soweit zu den Hypothesen. Nun die Fakten: Dieses Land ist vergiftet. Tödlicher Nebel sinkt auf die Felder der Menschen herab. Fumigación (11) nennen sie das. Mit jedem Tropfen fällt Vernichtung auf Pflanzen und Kinder. Die Nahrung verkümmert, die Nachkommen gehen ein. Unfruchtbarkeit breitet sich aus.“
„Wer macht das?“, rief Hannes. „Warum?“ Doch die Frage verschwebte unter dem Dach, während sie Barths heftigem Atem lauschten. Er hatte seine Kräfte erschöpft. „Landwirtschaft –“, kam es nach einer Ewigkeit, „Landwirtschaft entsteht in einer Jahrhunderte langen Geschichte. Aus Beobachtung und Erfahrung ist sie gemacht. Von der Mutter empfängt die Tochter das Wissen. Sie hinterlässt es als ihren Schatz. Mit seiner Hilfe zieht sie die Enkel groß. Anfällig ist dieses Wissen und schnell verloren wie alles, was sich der Mensch erwirbt. – Hier ist es zerstört! Und mit den Feldern und Dörfern eine der artenreichsten Landschaften unserer Welt.“
„Aber wer?“
„Auf jeden Fall hat sich die Fumigación als eine Methode erwiesen, mit der man ganze Landstriche erfolgreich entvölkern kann, ohne Waffengewalt, müsst ihr bedenken, zum Wohl ausländischer Investoren vielleicht oder auch der Eliten im eigenen Land? Wer weiß das schon so genau. Campesinos(12), Einheimische, Afro-Kolumbianer – entwurzelt, krank vom Gift womöglich und auch verletzt – sie alle vegetieren heimatlos am Rande der Städte. Flüchtlinge sind sie. Stellt euch mal vor, ihr seid abhängig, verkommt plötzlich in Lagern und Slums, ihr, die ihr vor kurzem noch selbständige Bauern ward. 2,7 Millionen Menschen sind es inzwischen, und jeden Tag werden es tausend mehr!“
Viel zu schnell hatte er das alles wieder gesagt – und sehr scharf. Nicht einmal sein Atem war noch zu hören. Es war, als sei er erstickt an seinem Schmerz.
„Zwanzig politisch bedingte Morde pro Tag!“ Heiser, kraftlos meldete er sich zurück. „Kann man es ihnen verdenken, wenn sie sich zu den Guerilleros schlagen, Männer wie Frauen, so hilflos, heimatlos, wie sie nun sind? – Möchte wissen –“, in seinem Krächzen schwang beinahe ein Lachen mit „wie lange sie brauchen um zu begreifen, dass sie dort auch nur bei einer Armee gelandet sind, die die Menschen im Land terrorisiert?“
„Aber die Amerikaner“, schaltete Hannes sich ein, „können die denn nichts tun? Ein paar, haben wir gehört, seien bereits im Land!“
„Das ist es ja.“ Es klang beiläufig, doch sein Schaukeln hielt an: „Wer –, von wem wisst ihr das?“
„Von –, J.J. nennen sie ihn. Treibt sich, scheint’s, überall rum.“
„J.J.? Hat nicht zufällig eine – gelähmte Hand?“
„Doch.“
„J.J. also. So so. Habt ihr mit ihm zu tun? Thadde, du machst doch nicht etwa Geschäfte mit ihm? Nimm dich in Acht! Der verkauft dir das Loch in der Donut (13) für das Geld, das du dir erst noch beschaffen musst. Großmäuliger Spekulant. Hat zum Schleuderpreis Land erworben, jahrelang, und es mit zigfachem Gewinn an die Großkonzerne verkauft. Mit jeder Frau, die ihm über den Weg lief, hat er gefeiert. Wenn sie schwanger war, hatte er plötzlich woanders zu tun. Aber er ist nicht der Einzige“, seufzte Barth. „Was treibt er jetzt …