Leseprobe 1

… Mitten auf dem Markt stand ein Kapokbaum. Waagerecht breiteten sich seine riesigen Äste aus. Tiefer Schatten lag über dem Platz.
„Wie – kommt es, dass Sie Pilotin sind?“
„Was hätte ich sonst werden können?“ Sie machte vor einer Steinbank halt. „Ich wuchs auf den Llanos auf – auf einer Estancia.“ Sie ließ ihren Blick über die Besucher schweifen, die sich auf dem Platz niedergelassen hatten, alle in farbiger, festlicher Tracht. Das Essen war beendet. Jetzt erzählten sie oder spielten. Einige schliefen auch.
„Bitte“, er deutete auf die Bank. Sie setzte sich, schaute auf die mächtigen Wurzeln, die sich über den Boden hoben und schlängelnd ihren Lauf nahmen über den Platz, während er ihre Knie in Augenschein nahm und die roten Sandalen mit den kleinen, staubigen Füßen. Freizeit, ging es ihm durch den Sinn, als er die dunkel schimmernden Smaragde wieder in ihren Ohrläppchen sah. Den Haarknoten hatte sie diesmal mit einem knallroten Tuch garniert.
„Ein Flugzeug –“, fuhr sie fort und schlug ein Bein über das andere, „ein Flugzeug hatten wir, solange ich denken kann. Ich war dreizehn, als ich zum ersten Mal flog. Bis ich den Schein bekam, war mein Onkel immer dabei. Auch später. Sogar jetzt gehen wir manchmal zusammen hoch. – Was hätte ich denn schon werden können? Guerillakämpferin vielleicht?“ – Thadde fuhr auf: „Na, ich meine nur, Fliegen ist schließlich – gefährlich!“
„Ja – aber wir sind doch hier alle mehr tot als lebendig.“
„Wie – meinen Sie das?“
„Der Tod kommt mit der Angst“, kam es leise und wie aus ihm selbst. „Sicherheit ist ein Gefühl, an das wir uns hier nicht erinnern. – Wer sagt mir, ob ich Ihnen vertrauen kann? – Gewalt, Rechtlosigkeit, Armut – sie alle haben unser Leben im Würgegriff. Die Aufklärungsrate der Verbrechen hier ist beinahe null. Wir müssen schweigen, um nicht unseren letzten Atemzug zu riskieren. Unglück ist das, wenn man seine Gedanken nicht äußern kann. Die meisten von uns, denke ich, sind inzwischen verrückt. Mit den Gedanken haben sie ihren Geist aufgegeben. Nun sind sie tot – als Menschen, meine ich. Der Fremde sieht uns leben, ja, aber es ist nur ein vegetierendes Leben: Aus eins mach zwei. Wie Stecklinge sind wir alle in einem Maniokfeld. Neues, Anderes, vielleicht Besseres bringen wir nicht mehr hervor.
„Wollen Sie es mir da verdenken, wenn ich mich ab und zu über den Wolken vergnüge? Gefährlich mag es ja sein. Aber vor der Gewalt des Himmels kann ich mich beugen. Ich bin glücklich, wenn ich mal abheben kann. Da oben bin ich allein. Ich komme rum, sehe vieles und brauche nichts zu berichten, bringe den Menschen das Nötigste...“ Ihr kleiner Fuß zog Kringel und Kreise im Sand. „Zur Dissidentin“, kam es kaum hörbar, „fehlt mir der Mut …