Leseprobe 3
…Ich hatte während der letzten zwei Jahre kaum Bewegung gehabt. Noch immer verschlief ich den größten Teil des Tages in meiner Kammer. Dafür lag ich nachts lange wach - und rauchte. Ja, Schwester Hanne war wieder aufgetaucht und hatte mir Zigaretten gebracht.Als es milder wurde, ging ich in der Dämmerung auch mal vor dem Haus auf und ab. Dann schleppte Rudi seinen zerschlissenen Bären an und wollte, dass ich ihm eine Geschichte erzähle. So manchen Abend palaverten wir drei auf den Eingangsstufen oder hofften im Torweg auf einen erfrischenden Wind -, denn es war Sommer geworden, und jeden Tag stand die Hitze flirrend über den Trümmern. Jedes Gewitter vermehrte die Schwüle, und das Unkraut, das nach dem eisigen Winter millionenfach ausgekeimt war, stand bald verdorrt. In den Nächten wälzte ich mich in meinem Bett unter dem heißen Dach und fand erst gegen Morgen ein wenig Schlaf. Manchmal nahm ich mein Kissen und zog auf die Bank unten im Hof, doch taten mir dort bald die Knochen weh.
Nur ich und die Stadt - hatte ich es geträumt oder gedacht? Jedenfalls sah ich mich eines Nachts in ihren Straßen, nur mich allein, von keinem bemerkt. Die Nächte waren jetzt hell. - Was gegen einen solchen nächtlichen Ausflug sprach, war der Umstand, dass ich keine geeigneten Schuhe besaß, Schuhe, die ich, wann immer mir danach zumute sein würde, allein anziehen und verschließen konnte. Im kommenden Frühjahr erstand Frau Schöntube für mich ein Paar Sandalen. Erstmals war ich nun beim Anziehen wieder autark. Was fehlte, war noch der Mut.
Eines Nachts, es war wieder Sommer geworden, und Rudi hatte sich, von der Sonne erschöpft, in den Schlaf geweint; auch die Frauen hatten lange Zeit keine Ruhe gefunden … Eines Nachts, genauer weiß ich es nicht zu sagen, denn weder hatte die Stadt ihre Glocken zurück bekommen noch ich meine Uhr … Eines Nachts jedenfalls hatte ich die Zeit wieder einmal schwitzend auf meinem Laken verbracht. Worauf wartete ich? Ich stand auf, zog mich an, griff Schuhe und Hut und schlich mich hinab. Die Haustür stand offen. Draußen schlüpfte ich in die Sandalen und sah vom schützenden Torweg aus eine Weile hinaus. Vor zwei Tagen hatten wir Neumond gehabt. Düsteres Zwielicht lag über der Welt. Am Horizont zuckten Blitze, aber es grollte nicht. Bis auf meinen Atem war alles still. Ich sah den Weg, der sich durch die schwärzlichen Trümmer zog, schaute zurück in den stockdunklen Hof ... Schließlich wagte ich mich bis an die Ecke, überquerte sogar - zögernd - den kreuzenden Weg, erreichte erste Ruinen, die mir den Blick auf das Schöntube'sche Haus verwehrten. Dort setzte ich mich, paffte meine Zigarette und dachte an nichts. Als der Morgen dämmerte, kehrte ich wieder zurück.
Hatte Vater für seine Ausflüge nicht immer einen Spazierstock gehabt?
Wie oft versagten meine Beine den Dienst? Wenn ich dann, auf den Trümmern sitzend, verschnaufte, beschlich mich sofort die Angst, man könnte mich finden.
Es war Vollmond, als ich auf eine unbeschädigte Mauer stieß. Schadlos, unversehrt - wie konnte das sein? Meine Neugier trieb mich an ihr entlang, bis ich einen vergitterten Durchbruch fand. Drinnen warfen Efeubäume plumpe Schatten auf das mondhelle Gras. Wo war ich? Meine Erinnerung schwieg. - Weiter ging ich an der Mauer entlang, bis ich vor einem schmucklosen Holztor stand. Seltsam leicht wurde mein Schritt; beinahe schwebend folgte ich dem sandigen Weg. Ahornblätter, Akazienwedel - zu Schleiern verwoben, bedeckten ihre zierlichen Schatten den Weg. Dämmerung, Lichtung - wo mein Blick den Boden berührte, hob und senkte sich hier der Sand, und als gelte es noch immer, einen Weg durch die Wüste zu finden, zogen Steintafeln, nicht mehr ganz aufrecht, aber doch alle in dieselbe Richtung gewandt, ja sogar zu erkennbaren Reihen geordnet -, Steintafeln zogen hier zu Hunderten durch den Sand.
Wie, in aller Welt, hatten sie überlebt?
Ich war früher nie hier gewesen. Friedhöfe, hieß es ganz allgemein, seien nichts für ein Kind. Aber von diesem einen hatte mir Mutter erzählt: Von den Veilchen, die ihn im Frühling schmücken und vom Winter, der hier mit den Toten schläft … Heiliger Sand - seit tausend Jahren begraben Juden hier ihre Toten.
Als Gefolgschaftsführer hatte ich seine Nähe immer gemieden und später erst recht. Aber jetzt zog er mich an, und nach einem weiteren schwül-heißen Tag in meiner Kammer über dem Trümmerfeld suchte ich wieder Kühlung hinter der schützenden Mauer im Schatten der Efeubäume zwischen den kieselgeschmückten Steinen im Gras. Gegen Morgen trieb mit heftigem Wind ein Gewitter heran. Staub und Blätter wirbelten auf. Äste brachen. Böen fuhren in die Bäume und bogen ihre mächtigen Kronen auf, sodass ich für Augenblicke den Dom über mir sah. Zwar war er auch vom Schöntube'schen Haus aus zu sehen -, es gab ja nichts mehr, was sich seinem Anblick noch in den Weg gestellt hätte -, doch war er mir in diesem Morgengewitter unerwartet düster und nah.
Dennoch stieg ich in einer der folgenden Nächte zu ihm hinauf, verharrte wortlos und ohne Gedanken -, wer weiß wie lange -, vor dem riesigen Bau, bis ich mich aus seinem Schatten löste und … Trümmer! Nein, Schwester Hanne hatte nicht übertrieben: Massen von Trümmern türmten sich hier. Ich wagte nicht, meinen Kopf zu heben, hatte ich doch seit meiner Verstümmelung nichts mehr gefürchtet als einen erneuten Schmerz. Unermessliche Trümmerhalden füllten den Platz, dehnten sich über den Hügelhang zum Marktplatz hinab, endeten auch vor dem östlichen Himmel nicht, der noch im Morgendunst lag. Trümmer, Schutt und Ruinen - das hier war einmal das Herzstück unserer Stadt! Ängstlich tastete mein Blick die wenigen Ecken und Schornsteine ab, die brandgeschwärzt diesen Jammerort überragten. Weg hier! - Aber ich konnte nicht. Gebannt suchte ich die Umgebung ab, glaubte auch mal ein Haus zu erkennen. Viele waren es nicht. Weg hier! Zurück! - Dass der Marktbrunnen in dieser Wüstenei völlig unversehrt stand, empfand ich als blanken Hohn.
Ich hatte mich abgewandt. Doch auch mit geschlossenem Auge wurde ich das Bild meiner Stadt nicht mehr los. Je länger ich es in meinen Gedanken sah, um so mehr vermischte es sich mit einem ganz neuen Gefühl: Hatte ich früher hier in ihrer Mitte denn jemals diese Weite gespürt?
Ein schmaler Weg schlängelte sich durch die Halden zum Neumarkt hinab. Als Schulbub war das hier mein Revier. Boxheimer - mein Blick irrte über den Schutt, doch von dem Geschäft fand ich nichts. Auch von der Litfaßsäule und dem "Goldenen Hirsch" waren nur rußgeschwärzte Steine geblieben. Kranzbühler, die Redaktion - ich hatte Mühe, mich überhaupt noch zu orientieren. Irgendwann stand ich vor ein paar Stufen. Bender, natürlich, sie hatten einmal zu Bender geführt: "Bender - vorm. Rothschild", das Schirmgeschäft! Bender, erinnerte ich mich, hatte sich den Aufgang mit Staatz geteilt, "Wilhelm Staatz". Solange ich denken konnte, hatten meine Eltern ihre Hüte bei ihm gekauft. Ich sah mich auch nach dem Textilhaus um, dem größten aller Geschäfte am Platz - "Textilhaus Schmitt", mit einem Doppel-T wohlgemerkt! Der Maler des Schildes hatte aus diesen t's zwei eilende Männchen in Frack und Zylinder gemacht. Wie oft hatte ich meine Nase gegen Schmitts Fenster gedrückt!
Ein einziges Haus, ein Eckhaus, fand ich so unversehrt, als stamme es aus einer anderen Welt. Seine barocke Pracht hatte früher keinen Eindruck auf mich gemacht, schließlich hatte die Stadt nur so von schmuckreichen Fassaden gestrotzt. Jetzt ärgerten mich seine vergoldeten Muschelornamente. Sogar die Treppe, die vom Trottoir schwungvoll ins Hochparterre führt, hatte den Untergang überlebt. Dort oben, in der Apotheke, hatte man mir öfter mal eine Schachtel Pastillen geschenkt. Ratlos berührte ich die schmiedeeisernen Blütenranken, die der Künstler hier zum Geländer verwoben hatte. "Ein Volk, ein Reich, ein Führer!", ging es mir durch den Sinn. Wie überzeugt ich damals doch war, dass alle denken würden wie ich. Nun ja, meine Eltern wohl nicht; aber von uns Jüngeren, so glaubte ich fest, würde ganz sicher jeder aus derselben Überzeugung heraus seinen Einsatz bringen. Dieselbe Not, dieselbe Aufgabe, dasselbe Ziel - dasselbe Schicksal, meinte ich, würde uns alle vereinen. Der Gedanke, dass es nicht so ist, kam mir erst nach meiner Verstümmelung. Seitdem vermied ich ihn. Überhaupt hielt ich mir die Wirklichkeit so gut wie möglich von meinem verkrüppelten Leib. In dieser Nacht aber, inmitten der Trümmer vor dem einen, aufreizend unberührten, heimatlich anmutenden, herrlich geschmückten Haus zwang sie mich in ihr Angesicht. Die Gleichheit, wusste ich plötzlich, für die ich einmal ins Feld gezogen war, gibt es nicht. Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben - im Krieg nicht und nicht im Zusammenbruch; und erst recht nicht in diesem Frieden, der jetzt über uns herrschte. War meine Verstümmelung nicht der Beweis dafür? Auch unter den Verlierern würde es immer Sieger geben: Leute, die sich Geschichten vom Glück erzählen, das ihnen einmal in größter Gefahr widerfahren war. - Verstümmelt zu sein und verloren, war ein Schicksal, das ich nur mit einer Minderheit teilte; obwohl eine grauenvolle Individualität auch unser Grüppchen noch auseinander riss.
Einen Sommer lang hatte ich meine Stadt gesucht und so verstümmelt gefunden wie mich. Es gab diese alte Sicht nicht mehr, die Durchblicke, Ansichten, in denen ich mich so gerne verlor, die Enge der Gassen, die jeden Schritt so gewichtig machte und jeden meiner Gedanken groß. Meine Stadt hatte ihre Tiefe verloren. Hagenstraße, Kämmererstraße - schnurgerade Schneisen im Schutt, flach, zweidimensional.
Der Sommer blieb warm, und mit jedem Regen wurden die Tage schwüler. Dicke Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, als ich eines späten Abends zum zweiten Mal die Wilhelminenallee betrat. Die Luft war voll Blütenduft. Natürlich hätte ich mich nach meinem Sturz im letzten Herbst ohne meinen Stock nicht wieder in diese Schotterwüste gewagt. Aber hier lagen sie, die ich liebte, und wenn nicht, so hatte doch hier ihr Leben geendet. Frau Bechtel - dachte ich und suchte einen Stein, um mich zu setzen -, ob sie an jenem Abend auch wieder bei uns im Keller war? Sie hatte allein gelebt in dem großen Haus gegenüber und wollte bei einem Angriff lieber mit anderen Menschen zusammen sein. "Ei Buusche!", hatte sie mich immer gerufen, "Ei Buusche, wie!" Angeblich konnte sie mein Fahrrad schon über das holprige Pflaster klappern hören, wenn ich noch vorne am Sedanplatz war. Dann wartete sie am Fenster, bis sie mich sah. Wie oft hatte sie sich bei Mutter über den letzten Kleinstadtklatsch echauffiert! Als Bub hatte mich das alles sehr interessiert, nicht weil ich ihre Geschichten so spannend fand, nein, ich wollte unbedingt einen von ihren Herzanfällen erleben. Wenn es nämlich um etwas Arges ging, konnte es sein, dass sie sich ganz unverhofft an ihren Busen fasste, nach Luft schnappte und "Moi Trobbe! Moi Trobbe!", rief. Es war Onkel Schorsch, der mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.-
Mutter - ob sie sich überhaupt mit Konstanze verstanden hatte? Und Konstanze - war sie glücklich, dass sie Mutter geworden war? Ein Kind für den Führer! - Im Gartenhaus hinten hatte Onkel Schorsch einmal den Friedrich Rotbart mit mir gelernt. Als ich ihn endlich aufsagen konnte, hatte ich seine warme, feste Hand wieder auf meinem Kopf gespürt. "Allerdings", meinte er, "sollten wir den alten Kaiser jetzt lieber schlafen lassen."
"Warum?", hatte ich rebelliert.
"Weil wir beschlossen haben, es mal mit einer Republik zu probieren. Das braucht Geduld und sehr viel Zeit."
"Aber warum lässt uns der Lehrer dieses ganze, lange Gedicht auswendig lernen, wenn du sagst, dass der Kaiser in seinem Berg bleiben soll?" Etwas, spürte ich, stimmte da nicht. Seit dieser Zeit, glaube ich, suchte ich Onkel Schorsch nicht mehr so gerne auf. Als ich die Hitlerjugend betreute, vergrößerte sich unsere Distanz, und in der Studienzeit war ich sowieso nur noch in den Ferien zu Hause. Wenn wir dann miteinander sprachen, gerieten wir uns schnell in die Haare. Auch zwischen Konstanze und ihm hatte es nicht geklappt. Deshalb war er wohl auch nicht zu unserer Hochzeit gekommen. Aber bevor ich einrückte, hatte ich ihn noch einmal bei uns in der Küche getroffen. Dort saß er mit Mutter am Tisch. Sie weinte. Als ich mich zu ihnen setzte, stand er gleich auf. "Für eine Regierung, die Bücher verbrennt", sagte er an der Küchentür, "zieht man nicht in den Krieg." Aber dann hörte ich ihn doch noch einmal vom Gang aus rufen: "Ich bete zu Gott, dass du wiederkommst!" - Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Wenn ich auf Fronturlaub kam und in die Weinhandlung schaute, hieß es immer, der Chef sei nicht da. Trotzdem informierte ich mich, was er in diesen Kriegszeiten überhaupt noch vorrätig hatte.
Ich war immer gerne in seinen Laden gekommen. Ganz gleich zu welcher Jahreszeit, immer empfing einen hier dasselbe heimelige Licht, das im Innern der grünen Flaschen zu glimmen schien. Die ausgetretenen Steinplatten am Boden, die dunklen Holzregale, der abgegriffene Ladentisch und dazwischen die Stille - all das, glaube ich, sprach zu mir vom unendlichen Atem der Zeit. Noch mehr aber war es der Geruch, der mich in diesem Raum so gefangen hielt. Mit jedem Atemzug drang er in mich ein und machte alles, was ich dachte und sah, bunter und weit. "Schöne Gedanken", hatte ich wohl mal gesagt und, als ich Mutters fragende Augen auf mich gerichtet sah, versucht, ihr meine Verzauberung zu erklären: "Es riecht hier so nach schönen Gedanken." Sie hatten gelacht, Mutter und Onkel Schorsch, belustigt, beinahe glücklich. Er nahm meine Hand und führte mich an den Regalen entlang, dann hakte er die kleine Leiter für mich oben an der glänzenden Messingstange ein. Portwein, Cognac, Madeira - ich durfte hinaufsteigen, und er entzifferte mit mir die verschnörkelte Etikettenschrift: Sherry, Malaga, Marsala, Bordeaux und Burgunder, Tokajer und Constantia - bei Onkel Schorsch, glaube ich, habe ich lesen gelernt. "In jeder Flasche", sagte er, als ich schon älter war, "gibt es ein Leben", und in meiner Vorstellung wurde aus diesem Leben so etwas wie ein schlafender Geist. "Es reift, dieses Leben", sagte er leise, "es reift auf der Flasche, was etwa heißt, dass es seinen Charakter verändert. Wein ist nicht fertig, weißt du; nicht diese Flasche und auch die nicht, die noch abgefüllt werden. Wein wandelt sich. Diese hier würden wir in hundert Jahren gewiss nicht mehr wieder erkennen." - Ein köstliches Geheimnis schien mir in diesem Laden zu leben. Manchmal, wenn ich abends aus meinem warmen Bett hinaus in die Dunkelheit starrte, kam es mir vor, als würde auch ich in einer solchen Flasche liegen und träumen. Was, rätselte ich, bis mich der Schlaf übermannte, was für ein Flaschengeist könnte wohl ich sein?
Onkel Schorsch wurde nicht müde, mit mir das Riechen zu üben - das Schnüffeln, wie er es nannte. Das, meinte er, sei das Erregendste am Wein. Im Geruch offenbare sich die Wandelbarkeit seiner Gestalten. - Wie stark ich doch hier seine Stimme hörte, hier an dem Krater, in dem nun alles zertrümmert lag, was einmal mein Leben war. - "Ich bete zu Gott, dass du wiederkommst!" - Hätte er doch nicht gebetet, haderte ich und hatte mich schon zum Gehen gewandt, als ich das rot glimmende Licht bemerkte. Wie lange schon saß jemand dort, nur einen Steinwurf entfernt, und beobachtete mich? Am liebsten … Doch es gab keinen anderen Weg. Ich musste an ihm vorbei. Noch immer bedeckten dicke Wolken den Mond. Mehr als unsere Umrisse würden wir voneinander nicht sehen. Als ich näher kam, stand er auf - eine schwarze Gestalt vor tiefgrauem Himmel. Er grüßte, bot mir eine Zigarette an, sagte aber, dass er kein Streichholz besitze. Ich zündete sie an seiner an. "Kein Material", klagte er, als wir dann auf den Trümmern saßen. "Kein Papier …" Nicht einmal die Zeitung könne auf mehr als zwei Seiten erscheinen. Nichts ginge voran. Die ersten Fabriken hätten sogar schon auf Kurzarbeit …
"Warum sitzen Sie hier?", hielt ich ihn an.
"Das", lachte er so verlegen, als hätte ich ihn bei einer unlauteren Tat ertappt, "das wollte ich Sie …" - Nur unser Atem war noch zu hören - der des fremden und der des eigenen Lebens. Je länger wir lauschten, um so gespannter wurde die Stille. "Ich habe hier einmal gewohnt", sagte er, während er seine Zigarette ausdrückte.
"Wo?", hatte ich wohl noch gefragt, doch eine Antwort schien kaum noch nötig zu sein. Er ließ sich auch Zeit. "Am Sedanplatz", sagte er schließlich, "wo die Weinhandlung war."
Es konnte nicht sein, und doch: Hatte ich es nicht befürchtet, geahnt? Noch lagen Scham und Angst mit meiner Sehnsucht im Streit, doch es gab keinen Weg an der Wahrheit vorbei: "Onkel - Schorsch?"
"Ja, Ferdl. Ja."
Ferdl - nur er hatte mich so genannt. Fassungslos wandte ich mich von ihm ab. Er wartete still, nahm mir irgendwann aber doch meine Zigarette ab, legte sie auf die Steine und griff meine Hand.
"Du lebst?", schluchzte ich und spürte, wie er seinen Arm um mich legte. Ich konnte mich an ihn lehnen. Ich konnte meinen Stumpf an ihn drücken; er wich nicht zurück. Er hielt mich, hielt diesen Krüppel aus, den jämmerlichen Rest eines Menschen …
"Dass ich dich wieder finde", flüsterte er in meine Gedanken, "dass ich dich so in meinem Arm halten darf." Die halbe Nacht saßen wir an dem Bombenkrater. Er ließ mich weinen - Tränen der Scham, Tränen voll Schmerz, Tränen, die endlich Erleichterung waren. Er streichelte meine Hand, während er mir von Konstanze erzählte und von meinem Kind, und als er endlich von Mutter sprach, versagte auch seine Stimme.
Er sprach von Vater, und wie sie die Nachricht von seinem Tod erhielten, und dass er, Schorsch, sich am Morgen vor jener Feuersbrunst zum Hof seiner Schwester Elly aufgemacht habe, um für alle etwas zu essen zu holen.
Er hielt mich; und es war, als habe er die Last übernommen, die ich mir selber war. Mir wurde klar, dass er das ganze Ausmaß meiner Verstümmelung kannte. Mit ihm brauchte ich den aufziehenden Tag nicht zu fürchten. Er hatte mich gesucht, hatte hier gewartet - auf mich. Er würde mich nicht verlassen, wenn der Morgen graute und er mein entstelltes Gesicht … Erschöpft schlief ich ein.
"Zeit, dass du ins Bett kommst, Junge." Die Sonne schien auf uns und unsere zertrümmerte Straße herab. Er nahm meinen Kopf in seine Hände, sah mich an, küsste meine Stirn, mein Auge, und dann küsste er mich auf den Mund..
Wie hatte ich seinen Schritt nur vergessen können? Dabei hatten wir doch zuhause öfter über seine luxierte Hüfte gesprochen. Schließlich hatte sie ihn in zwei Weltkriegen vor der Front bewahrt. Oft war ich nicht mit ihm gelaufen -, hatte mir meinen Onkel Schorsch auch eher sitzend in Erinnerung aufbewahrt -, aber sein plumper Schuh hatte mich als Kind immer befremdet.
Schweigend hatten wir uns auf den Weg gemacht - erschöpft nach der durchwachten Nacht, noch immer ungläubig, was unser Zusammentreffen betraf, erleichtert und ratlos zugleich. Ob sich nach all den Jahren überhaupt ein Gespräch in Gang bringen ließ? So viel Schreckliches, Endgültiges war passiert. "Dein Schuh", begann ich, um unser Schweigen nicht unnötig auszudehnen, "knarrt ja nicht mehr."
"Hat zuviel hinter sich." Onkel Schorschs Antwort klang unbekümmert, beinahe vergnügt, doch er war stehen geblieben um zu verschnaufen. "Wenn er noch knarren würde", meinte er lächelnd, "wären wir sicher im letzten Herbst schon zusammen gekommen -, ich meine jenen Abend in der Platanenallee. Erinnerst du dich?"
Onkel Schorsch begleitete mich bis zum Schöntube'schen Haus. Dort kochte er Tee und Haferbrei und saß an meinem Bett, bis ich schlief. Als ich aufwachte, war er noch immer da. "Jetzt erzähl mir mal", sagte er, "wie du hier lebst." -
Es war mir nicht klar, wie er jedes Mal den Weg vom Dorf in die Stadt hinein schaffte, aber wir waren so ziemlich jede Nacht unterwegs - beim Pegelheisje oder am Hafen. Wo auch immer wir in der Nacht herumgestrolcht waren, morgens endete unsere Tour in einer der schmalen, trümmergesäumten Straßen im Herzen der Stadt: Weber-, Gerber-, Säumergass', Kleine Wollgass' oder Pankratiusstraß'. Bis auf die Lederfabrik, die die Bombennacht überlebt hatte, schien diese Gegend völlig verlassen; und doch fanden wir hier Nacht für Nacht eine beachtliche Zahl von Fahrzeugen geparkt. Keines stammte aus unserer Stadt - natürlich nicht, denn hier war der Puff; das heißt, hier hatte er vor Kurzem wieder neu aufgemacht, nachdem man ihn seit jener Feuernacht provisorisch in einer Bar untergebracht hatte. Mit einem ersten, raschen Blick registrierte Onkel Schorsch Fabrikate und Typen, um sich dann den Nummernschildern zu widmen. Nach kurzer Zeit unterschied er Wiederholungstäter von Gelegenheitssündern. Er kannte die Größe des Einzugsbereichs und konnte die Stadt mit den meisten Kunden benennen. "Bist müde, Bub", pflegte er manchmal zu sagen, "lass dich nicht aufhalten. Ich hab noch zu tun." - Eines Morgens, Onkel Schorsch machte sich auf der anderen Straßenseite zu schaffen, trat drüben ein Mann aus dem Haus. "Für heute ist Schluss", rief er ihm zu, bestieg leise pfeifend sein Motorrad und nickte auch mir, der ich mich, viel zu verblüfft um zu fliehen, in eine Mauerecke gedrückt hatte, freundlich zu.
"Maurice", erklärte mir Onkel Schorsch, während er in den Beiwagen stieg, "Maurice ist so nett und nimmt …" Doch gegen den aufheulenden Motor kam er nicht an. "Aller dann! Moije …", er zeigte mir seine zehn Finger. "Hier!" Ich nickte und winkte, bis das Gefährt um die Ecke bog.
Seitdem erwartete ich ihn abends in den Straßen am Puff. Roter Mohn …, klang es leise aus den geöffneten Fenstern, ...warum welkst du denn schon, den der Liebste mir gab ... Sobald ich Maurice im Haus wusste, verließ ich die Ruine, in der ich mich vorsichtshalber verborgen hielt. ... schon über Nacht ist deine Schönheit verblüht. Maurice habe Konzertpianist werden wollen, erfuhr ich von Onkel Schorsch. Leider sei ihm der Krieg dazwischen gekommen - der Erste Krieg. Maurice wurde einberufen und hatte nach wenigen Wochen den kleinen Finger an seiner rechten Hand verloren. Um Stummfilme zu begleiten, reichte es noch. Als es mit dieser Ära aber zu Ende ging, musste er mit Schaubühnen und Varietés durch die Welt tingeln, bis er nach dem Zusammenbruch die Stelle in unserem Puff hier bekam.
Glaubte Onkel Schorsch, das alles würde mich interessieren, mich, der ich die Öffentlichkeit, ja die Bekanntschaft jedes einzelnen Menschen vermied? "Immerhin", entgegnete ich, "hat er nicht umsatteln müssen. Er kann sich ernähren. Und für ein Motorrad, sogar eins mit Beiwagen, reicht es auch, wie man sieht." Onkel Schorsch sagte nichts mehr, und auch ich schwieg. Um so heftiger fielen meine Gedanken über mich her: Du hättest ihn nicht derart schroff zurückweisen dürfen, ihn, der jetzt so viel für dich tut! Doch er hatte meine Ruhe gestört. Ich wollte keine Menschen in meinem Leben, das schon so lange kein Leben mehr war. Die kühlen Blicke der Ärzte und Schwestern ängstigten mich schon genug! Die heimliche Neugier der Patienten war eine nicht endende Last und ich viel zu schwach, um sie zu ertragen. Es gab Stunden, in denen ich mit mir allein in meiner Kammer war, mich auch nicht mit dem Essen abplagte, nur so auf meinem Bett lag, das Auge geschlossen und ohne Schmerz. Dann fühlte, spürte und dachte ich mich ganz unversehrt. An solchen Momenten war ich interessiert. Belastungen durch anderer Leute Leben brauchte ich wirklich nicht.
Onkel Schorsch blieb wortkarg in jener Nacht, doch im Morgengrauen kam er noch einmal auf Maurice zurück: "Er ist Jude", sagte er. "Vielleicht kannst du dir vorstellen, dass er es schwer gehabt hat?" - Ich konnte, aber ich wollte nicht. Ich wollte keinen Kontakt mehr zu Menschen, auch nicht zu diesem Maurice.
Eines Abends standen wir uns gegenüber. Wie gern hätte ich gekniffen, aber es war zu spät. Außerdem hätte ich mich mit einer Flucht noch lächerlicher gemacht, als ich es ohnehin schon war. Schweiß brach mir aus, und ich war sicher, dass es mir nicht gelang, meine Angst vor Maurice zu verbergen. Onkel Schorsch sprang mir nicht bei, und weil mir die Nerven für eine belanglose Bemerkung fehlten, warf ich Maurice meine Neugier entgegen: "Wo haben Sie denn den Krieg überlebt?"
Er blickte mich an, als ob er wisse, dass ich seit Jahren vor genau diesem Blick floh -, weil er mir meine Verstümmelung zuspiegeln würde, die noch ganz andere Bereiche betraf als nur mein Gesicht und meinen Arm. - Maurice wartete ab. "In einem Dreckloch," sagte er schließlich, "in einem Dreckloch am Lebensweg…