Leseprobe 1
…"Fünfundvierzig noch, Anfang März. Bald sechzehn Jahre ist das nun her. Wir waren auf dem Rückzug damals - im Osten. Viel mehr weiß ich nicht. Im Frontlazarett kam das Fieber. Dann war ich auf dem Transport. Wenn ich zu mir kam, glaubte ich mich schon in der Hölle: Verschiebebahnhöfe, Tiefflieger, Minen, Durst, Schmerzen und elende Kälte." - "Ein eisiger Winter." - "Als die Amis die Stadt einnahmen, lag ich schon …""… hier?" - Ich nickte. "Der Lazarettarzt …"
"Dr. Balde?"
"So hieß er, ja. - Ich bekam Flüssigkeit, wurde gewaschen und ins Sterbezimmer gelegt. Als ich am nächsten Morgen noch lebte, operierte er meinen eiternden Stumpf. Für mein Gesicht, sagte er, könne er nicht viel machen. Das Auge sei weg und die Wange bis auf das Jochbein verbrannt. - Ich konnte nicht trinken, nicht essen, nicht sterben, nicht leben." Und draußen war Frühling!
Ob er wirklich so fantastisch war, wie Schwester Hanne ihn mir beschrieb? Wenn sie anrückte, um meinen Stumpf zu baden, erzählte sie mir von grünen Wiesen und immer neuen Bäumen, die über Nacht aufgeblüht waren. Manchmal hielt sie mitten in ihrer Arbeit an. "Keine Angst mehr ums Leben", seufzte sie dann. Dass ihr Verlobter als vermisst galt, erfuhr ich von der Stationshilfe, die manchmal zum Putzen kam. Ich war zu schwach, um auch nur über den Rand des Fensters zu blicken. Nein, ich konnte nicht wissen, wie es da draußen war. Ich glaube, ich verstand nicht einmal, was Schwester Hanne mir sagte. Sobald sie gegangen war, überließ ich mich wieder dem Tod. -
Es war an einem Donnerstagmorgen im März. Im Westen hatte man amerikanische Panzer gesichtet. Zuerst wühlten sie dort die Felder auf, dann formierten sie sich, um in die Straße einzubiegen, die von Nordwesten in unsere Stadt herein führt. "Doitsche, ergäbbt oich … Doitsche ergäbbt oich …!", übertönten die Lautsprecher noch den Lärm ihrer Ketten. Keine Bomben mehr. Kaum noch Schüsse. Friede? Erschöpfungsfriede. Die Nächte brachten Erholung, natürlich: Ergebenheit sichert Ruhe und Schlaf. Aber für die Menschen jenseits des Flusses und weiter im Osten verdichtete sich noch die Qual. Millionen verloren in diesen letzten Wochen ihr Leben, und der Hauptstadt stand das Allerschlimmste noch immer bevor. Frühling und Leben und nicht mehr gejagt, das wird der Zauber gewesen sein, den die Menschen bei uns damals verspürten. - Ergebenheit bringt Entlastung, sagte ich mir. Deshalb wollte ich sterben.
"Geb' ich dir eine Flasche Liebfrauenmilch, gibst du mir Mehl oder Öl, vielleicht auch einen Fisch. Wer nichts hat, kann auch nicht fuggern ." Schwester Hanne war flink, hatte Kraft, brauchte keine Hilfe, um mich zu heben. "Wer arm ist", sagte sie, "kann vom Schwarzmarkt nicht profitieren, es sei denn, er bietet seinen Körper … Jeder fängt irgendwo an." Der Marktplatz läge in Trümmern, auch die Kämmergass'. Ganze achtundachtzig Häuser hätten in der Altstadt das Feuer überlebt. Fünfunddreißigtausend Menschen würden nach einer Bleibe suchen. Vom Dom seien alle Dächer verbrannt, die Fenster zersprungen … Die Dreifaltigkeitskirche sei eine Ruine.
Es rührte mich nicht. Der Trümmerhaufen war ich. Ich hatte meinen kräftigen, fähigen Körper nicht mehr. Ich fror, ich hungerte, wer tat das nicht? Doch keiner von denen da draußen war, wie ich, auf immer zerstört. Es gab mich so wenig wie diese Häuser, von denen mir Schwester Hanne erzählte. Ich lag hilflos und voller Schmerzen, angewiesen auf die, die den Kampf aufnahmen aus Gewohnheit vielleicht oder Trotz -, ein Verhalten, das ich auf jeden Fall nicht verstand..
Sie litten. Lebensmittel, Unterkunft - ein anderes Thema hatten sie draußen nicht. Wasser, Essen, ein Bett, Brennholz, vielleicht ein paar Kohlen … "Wissen Sie", sagte Schwester Hanne einmal und konzentrierte sich sehr auf die Lagen der Mullkompressen für meinen Verband, "immer nur Muckefuck … Bei meiner Freundin bekomme ich eine Tasse Kaffee - von den Amis. Was sie selbst nicht gebrauchen kann, verkauft sie woanders." Nun, diese Quelle war bald versiegt, denn schon im Juli übergaben die Amerikaner unser Gebiet den Franzosen.
Wenn Schwester Hanne mit ihrem täglichen Bericht fertig war, saß sie über meinen Kopf gebeugt und zog mit der Pinzette totes Gewebe von meinem Gesicht. Es tat nicht weh. Der Stumpf schmerzte, aber nicht das Gesicht - zunächst nicht. Durch die vielen Operationen, die folgten, bin ich auch dort sehr empfindlich geworden.
Sie war geschickt, Schwester Hanne, doch die Zornfalten auf ihrer Stirn und ihre zusammengekniffenen Lippen ängstigten mich. Wann hatte ich mich zuletzt gesehen? Ich wusste es nicht. Nachts aber schwebten Bilder heran von einem jungen Mann mit markanten Zügen -; keiner von uns wog damals zuviel. Er trug Uniform, selbstverständlich. Von dem Krüppel, der ich nun war, fehlte mir allerdings jedes Bild. Es war Schwester Hannes Blick, voll Abscheu und voll Entsetzen, der mir spiegelte, was ich nun war. Auch heute wüsste ich nicht zu sagen, für wen von uns beiden die Sicht auf den anderen qualvoller war. Es gab Tage, da brach sie ganz einfach ab. Dann saß sie schwer atmend mit geschlossenen Augen oder schaute über das Fensterbrett irgendwo hin, fuhr sich - Pinzette und Tupfer noch in den Händen - mit dem Unterarm über die blasse Stirn.
Manchmal glitt ihr auch das eine oder andere Instrument aus der Hand. Nein, ich muss es genauer sagen: Da waren Tage, an denen sie Sonden, Scheren, Pinzetten und was es sonst an metallenen Gerätschaften gab, mit Nachdruck in die Blechschale warf; Tage, an denen sie mit dem Bein wie zufällig an mein Bett stieß, was mich aufschrecken ließ und auch schmerzhaft war; Tage, an denen sie, wenn überhaupt, mit blitzenden Augen auf mich herabschaute - vielleicht nicht angriffslustig, aber doch kampfbereit. "Wir haben uns jetzt einen Weg über die Trümmer getrampelt!" Wie einen Fanfarenstoß schmetterte sie ihre Nachricht über mein Bett. Tausende Fußgänger hätten sich mit ihren täglichen Tritten einen Pfad durch das Ruinenfeld der Altstadt geschaffen, der nun die Peters- mit der Herzogenstraße verband. Interessieren tat es mich nicht. Meine Gedanken kreisten um mich. Nicht einmal umbringen konnte ich mich!
"In zwei bis drei Jahren haben wir alle zerstörten Wohnungen wieder aufgebaut", hatte Hitler nach den ersten Bombenangriffen auf unsere Städte gerufen. Damit war das Thema "Trümmer" vom Tisch, für ihn und für mich. Waren wir nicht die stärkste Armee? Solange ich mich an die Parole der Unbesiegbarkeit hielt, brauchte ich das Elend eines Zusammenbruchs nicht zu bedenken. - Und für den Fall, dass die Entwicklung zu aussichtslos wurde? Stolz im Blitze fahr' ich dann, in den Tod als freier Mann -, wir hatten ja unsere Sprüch'. Mit meinem Freitod hätte ich sogar noch die ersehnte, endgültige Tat vollbracht - eine Ersatzvision zwar, aber zumindest garantierte sie Selbstbestimmung. Auch zweifelte ich nicht, dass Alle so dachten: Wenn schon nicht Sieg, dann Untergang! Doch nicht einmal den hatten wir zustande gebracht…