VON HALLOWEEN UND HEILIGEN
Erstfassung: Almanach deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte 2010
Überarbeitete Fassung: digital-reprint 2019
Print ISBN: 978 - 3 - 8335 - 9013 - 9
ebook ISBN: 978 - 3 - 8335 - 0013 - 8
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Leseprobe
... Einwanderer aus Irland, einem Land, das seine Bewohner innerhalb weniger Generationen nicht mehr ernähren konnte, hatten es vor zweihundert Jahren in die USA mitgebracht.
Seit den 1990er Jahren nun hat es auch in Ostasien an Popularität gewonnen. "Wen wundert's", hörte ich so manchen hier sagen, "schließlich werden dort die Kostüme genäht."
Ist damit aber schon alles erklärt? Womit bringt Halloween seit Jahrtausenden Menschen an den verschiedensten Orten in Gang? Womit rührt es sie an? Welches Verlangen, welche Wünsche werden von einer solchen Unruhenacht bedient?
Auch in Europa, so heißt es, habe ein vom Kommerz geschürtes Interesse am Unerklärlichen inzwischen zu seiner Verbreitung geführt. Ob als Kinderfest oder Erwachsenen-Party, Halloween würde von Industrie, Medien und Gastronomie kräftig beworben und habe als planmäßig erzeugter Event in unserer ereignissüchtigen Gesellschaft längst seinen Platz.
Und doch, ich fand es lange Zeit unangebracht. Schließlich feiern viele von uns am einunddreißigsten Oktober Martin Luthers Thesenanschlag an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Auch schien mir der Klamauk von Vampiren und Hexen in der Nacht vor dem Allerheiligenfest geschmacklos zu sein - einfach profan.
Profanum, ja - aber die gedankliche Brücke, die sich hier bot, nahm ich in meiner Empörung zunächst gar nicht wahr. Stattdessen zog ich mich auf die Hoffnung zurück, unsere abgelegene Straße würde auch in diesem Herbst wieder vom Popanz der Halloweentrupps verschont.
Eines Abends war es so weit: Halloween nahte -, das heißt, es schwebte, kaum dass es dunkel war, auf kleinsten Wassertropfen herab, ließ sich auf Haaren und Kleidern nieder, setzte sich auf die Haut, kroch einem hinterrücks in die Glieder, und wer sich nicht eilte, dem folgte es klammheimlich ins Haus.
Ich hatte die Fensterläden geschlossen und saß im warmen Zimmer beim Kerzenschein, da schreckte mich das befürchtete Klingeln auf. Es ging lange und laut, brach für ein paar Herzschläge ab und wurde, als es wiederkam, von einem Raunen begleitet.
Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss, wollte schon mit beherztem Ruck -
Ein Schrei aber ließ mich zusammenfahren. Im nächsten Moment stand ich geblendet im Licht der Laterne. Stimmen erregter Geister drängten wehklagend an mein Ohr. Schatten lösten sich aus dem Nebel der Nacht, hasteten über die Straße zum Tor. Ja, eben schwang sich der kühnste aller Unholde kreischend -
Mit jedem Schritt, den ich näherkam, formte sich die Randale zum Chor: "Süßes oder Saures!" Aus Schnurrbärten und Knochengesichtern schallte es mir entgegen. Süßes oder Saures, ich hatte die Wahl.
Die Printen fielen mir ein, und so zog das unheilige Häuflein, ohne mir Saures zu geben, auch bald wieder ab.
Dafür tauchten andere Kinder in meinen Gedanken auf - andere? Kinder jedenfalls, die zu St. Martin singen, am Dreikönigstag klopfen. Sie bitten. Sie haben zu geben. Auf jeden Fall fordern sie nicht.
Brauchen wir Halloween, fragte ich mich und ging fröstelnd ins Haus.
Im Nachbardorf, so erzählte man sich am nächsten Tag, habe eine Bäuerin die lärmende Bande gefragt, was denn der späte Krach noch bedeute?
"Halloween!", hätten die Kinder gerufen und auch gleich eine Antwort bekommen: "Bei uns nicht!"
Rezension, Süddeutsche Zeitung, 31.10.2020 SZ-Archiv-20201102_115202